Der Junge aus Milastraße 18
Der kleine Junge hielt seine große Brotkruste fest in der Hand, als er über die Steintreppe in den Hof krabbelte. Keiner beachtete ihn. Niemand rief, er sollte zurückkommen. Sofort! Etwa zwanzig Meter entfernt sah er die Hühner, die mit unaufhörlichem Nicken ihrer Köpfe nach Körner suchten. Der Kleine setzte sich in Bewegung. Fast konnte er sein Glück nicht fassen! Niemand hielt ihn auf! Kreischend vor Freude bewegte der Kleine seine wackligen Beine auf die Hühner zu. Diesmal würde er eins fangen! Er konnte noch nicht allzu weit vorausdenken. Aber er kannte den Teich, dort tranken die Hühner, die liefen nie ins Wasser – er würde endlich eins anfassen können.
In dem kleinen Haus war die hagere Frau, die sonst ein scharfes Auge auf die Hühner, ihre Kuh, den Jungen und alles hatte, was sonst in ihrem kleinen Bereich zu versorgen war, nicht allein. Zwei ernste Männer, die einiges auf dem einzigen Tisch ausgebreitet hatten, standen in dem Wohnraum, in dem auch gekocht und gegessen wurde.
Der erste, der sich Antoni nannte, wies auf ein Foto: „Der Verladeplatz im Warschauer Ghetto. Dort soll es angefangen haben. Stimmt das, Anka?“
Anka. So hatte sie sich im polnischen Untergrund genannt. Die Frau versuchte, ihre Ruhe zu bewahren. Der Kleine … Sie ahnte, was sie wollten, die Männer. „So sagte man’s mir. Am 19. April 1943, das war der Tag vor dem jüdischen Befreiungsfest Pessach, da kamen Polizisten und SS-Hilfstruppen ins Ghetto, um dort mit den etwa 60 000 Bewohnern in den nächsten drei Tagen aufzuräumen, wie sie es nannten.“
Der Jüngere der beiden Besucher, der sich Henryk nannte, nickte. Er wusste, 300 000 Juden waren zwischen Juli und September 1942 aus dem Ghetto in eins der Vernichtungslager wie Treblinka deportiert worden, etwa 11 600 in Arbeitslager, wo die meisten ebenfalls irgendwann an Hunger und Erschöpfung starben. Die noch im Ghetto Lebenden wussten, dass ihnen derselbe Tod bevorstand. Sie hatten erfahren, dass das Ghetto geräumt werden sollte.
Henryk sagte: „Die Juden bauten Bunker. Am Ende fanden die Deutschen etwa 650 davon! Zwei Kampftruppen hatten sich zum Kampf vereinigt, etwa 750 Männer und Frauen der jüdischen Kampforganisation – Zydowska Organizacja Bojowa, ZOB und der Jüdische Militärverband Zydowski Zwiazek Wojskowy – ZZW. Sie wussten, sie hatten mit ihren neun Gewehren und wenigen Pistolen keine Chance.“
Anka nickte: „Am Nachmittag vom 19. April kletterten zwei Jungen auf ein Gebäude am Platz und hissten die rot-weiße polnische Flagge und die blau-weiße der Juden. Man konnte es von uns auf der polnischen Seite aus sehen! Die Genossen stampften in Anerkennung mit den Füßen und sangen! Was die Menschen im Ghetto aber nicht hören konnten.“
Der kleine Junge hatte jetzt die Hühner erreicht. Sie flatterten unruhig, um ihm zu entkommen. Er sah das weiße Huhn, das immer als erstes von seiner lieben Mama die Körner hingestreut bekam. Es hatte einen Namen, es hieß Zarin! Er rannte, so schnell er konnte, dem weißen Huhn nach, das sich aufgeregt flatternd entfernte. Da! Der Kleine stolperte, und – plumps! Mit einem Schlag setzte er sich auf seinen Hintern.
Antoni wollte es genauer wissen: „Als sie am Verladeplatz waren, wurde da plötzlich aus der Menge mit Pistolen auf die Deutschen geschossen?“
Anka nickte wieder. So hatte man es ihr erzählt. Die Deutschen konnten es nicht fassen. Es hatte eine erbitterte Schlacht gegeben! Beim ersten Sturm auf das Ghetto hatten die Deutschen zwölf Mann verloren! Die Menschen stoben auseinander, verstreuten sich in alle Richtungen, weg vom Verladeplatz! Das war der Anfang des verzweifelten jüdischen Aufstands.
Sie sagte: „Es war nicht zu glauben. Sie hatten uns um Waffen gebeten, viele konnten wir ihnen ja nicht geben … und die meisten unserer Genossen …“ Sie beendete nicht, was sie sagen wollte: dass die Genossen nicht geglaubt hatten, die Juden würden sich gegen die Deutschen wehren. Sie fuhr fort: „Die Gegenwehr war erstaunlich! Jüdische Kämpfer schossen aus Seitengassen, aus der Kanalisation, aus den Fenstern. Die Deutschen waren plötzlich nicht mehr im Ghetto sicher!”
Henryk fügte aufgeregt dazu: „Sie warfen Molotowcocktails und Handgranaten auf die Deutschen! Am Ende sprach der Kommandant von 110 Toten, wahrscheinlich waren es sehr viel mehr – die Juden hatten sogar zwei Panzer in Brand gesetzt! Die Deutschen waren völlig überrascht, außer sich! So etwas hatten die niemals erwartet!“
Antoni legte ein weiteres Bild auf den Tisch, während Henryk fortfuhr: „Die längste Schlacht fand am Muranowski-Platz statt. Dort wurde der ŻZW-Führer Dawid Moryc Apfelbaum im Kampf getötet.“
Anka war inzwischen immer aufgeregter geworden: „Das war aber nicht das Ende! Die Nazis ordneten an, dass das Ghetto niedergebrannt werden sollte! Kämpfer und andere Überlebende flüchteten in die Bunker. Die Deutschen gingen systematisch vor, setzten Flammenwerfer ein, warfen Granaten in jedes Haus, ein Haus nach dem anderen, Häuserblock für Häuserblock. Wir sahen das Flammenmeer, den schwarzen Rauch, hörten später von den rot glühenden Steinen der Häuser, mussten selbst auf unsrer Seite gegen den würgenden Husten ankämpfen…“
Henryk rief: „Trotzdem – der Bunkerkrieg, der Häuserkampf dauerte bis zum 16. Mai! Fast einen ganzen Monat! Länger als manches besetzte Land gegen die Deutschen ausgehalten hatte!“
Anka konnte nicht mehr an sich halten. Sie deutete auf ein Foto und sagte: „Die Milastraße 18. Dort gebar eine junge Frau ein Baby, während um sie herum gekämpft wurde!“
Ein Baby – das Kind. Das überlebt hatte, nachdem seine Mutter Deborah gestorben, sein Vater in den Flammen in einem anderen Bunker bis zuletzt gekämpft hatte. Einer der polnischen Kämpfer, der anderen half, durch den Tunnel aus dem Ghetto zu fliehen, hatte das Neugeborene gerettet, das eine Todgeweihte in eine Decke gewickelt hatte.
Henryk verfolgte das weiter: „Dort in Milastraße 18, da fanden die Deutschen den größten Bunker! Mila 18 war das ZOB-Kommandozentrum … Sie kämpften dort weiter, bis die Deutschen versuchten, sie mit Tränengas auszuräuchern – etwa 100 zusammen mit dem ŻOB-Führer Mordecai Anielewicz nahmen Zyanid, vergifteten sich.“
Anka wollte noch etwas hinzufügen: „Nur einige, darunter Marek Edelmann, der Stellvertreter von Anielewicz, Marek Edelman konnte zwei Tage später mit unserer Hilfe durch die Prostastraße entkommen, durch die Kanalisation … Wenn sie schon sterben mussten, so sagte er später, dann: „… wollten wir unseren eigenen Tod und den Todesort selbst bestimmen.”
Die Verzweiflung hatte ihnen diesen Todesmut verliehen! Ein Genosse, der wusste, dass sie allein war mit ihrer Trauer um den toten Geliebten, den die SS verhaftet und zu Tode gefoltert hatte, hatte ihr das Baby gebracht. Den kleinen Jungen, den sie lieben gelernt hatte wie ihren eigenen Sohn. Durch ihre Erinnerung hörte sie die Worte wie von weitem: „Anka, da sind Leute, die damals aus der Milastraße 18 zu uns in den Wald geflohen sind. Wir müssen den Juden den Jungen zurückgeben. Henryk und ich, wir wurden beauftragt …“ Antoni sah die Trauer in den dunklen Augen und beendete den Satz nicht.
Anka sagte nichts. Ging in den kleinen Schlafraum, wo sie den Jungen zum Mittagsschlaf hingelegt hatte. Und erschrak als sie ihn leer fand. Um Himmelswillen, der kleine Teich draußen! Sie sprang über die Stufen, sah den Kleinen nicht, nur einen Schwarm aufgeregter Hühner in der Nähe des Teichs.
Dort saß er. Mitten in einer schlammigen Pfütze. Die nackten Beine baumelten im Wasser. Die Ente mit ihren zwei Jungen waren herbeigeschwommen. Doch der Junge war mit den Hühnern beschäftigt. Er riss langsam Brotstückchen von der Kruste, warf sie ihnen zu, während Zarin ihm auf der Schulter saß. Er klatschte in die Hände, als er Anka sah, und rief: „Mama – kluk, kluk!“
Sie hob ihn auf und drückte ihn fest an sich, küsste das lockige Haar, die schmutzigen Wangen. Hielt ihn auf einem ihrer starken Arme, während sie mit der anderen Hand in der Schürzentasche eine Handvoll Körner fand und den Hühnern zuwarf. Einige landeten im Wasser, wo die Enten danach tauchten.
Zu Antoni und Henryk sagte sie: „Dort steht der Samowar. Bedient euch, trinkt Tee. Ich muss ihn baden. Umziehen. Seine Sachen packen. Wisst ihr: Heute ist der Jahrestag, an dem die Deutschen die Milastraße 18 entdeckten. An dem der Anführer Mordechai Anielewicz starb.“ Erneut küsste sie den Kleinen:„Und an dem der Kleine geboren wurde.“
Die Männer blickten erstaunt. Dann sagte Henryk: „Der 8. Mai. Der Tag, an dem die Deutschen kapitulierten. Der Tag unserer Befreiung. Von nun an sollen die Waffen schweigen.“
Anka sah den Jungen an und sagte so laut, dass die beiden Männer es hören konnten: „Herzlichste Glückwünsche für dein Leben, David!“