Short Stories of Ruth Weiss

Wie der Busch gerettet wurde

Die weiße Gazelle

Zelda hatte lange keinen Namen. Hätte sie das erfahren, hätte sie sich nicht gewundert. Im Gegenteil, sie hätte wahrscheinlich eher gedacht, dass es erstaunlich war, dass sie überhaupt einen Namen erhalten hatte.

In ihrem Volk war es Sitte, dass der Vater sein Neugeborenes auf den Arm nahm um mit diesem allein in den Busch zu gehen. Dort flüsterten die Ahnengeister ihm einiges über das Kind zu. Ob es klug sei, gefügig, eigenwillig oder anderes. Danach konnte er zurückkehren und den Namen des Kindes verkünden.

Zeldas Vater aber fasste sein Kind nicht an. Er hatte die Hütte am Abend betreten, nachdem die Frauen wie üblich Mutter und Kind versorgt hatten. Erschrocken war er mehrere Schritte zurückgetreten. Hatte erneut die schlafende Frau und das Kind betrachtet. Hatte gefühlt, wie sein Herz sich zusammenzog. Und mit einem Fluch auf den Lippen hatte er sich abgewandt und war im Busch verschwunden.

Es war das letzte Mal, dass er seine Tochter sah. Ihre Mutter wartete nicht auf die Rückkehr ihres Mannes. Am Tag nach der Geburt zog sie mit ihrem wenigen Besitz, ihren Kochtöpfen und Zelda auf dem Rücken, die noch nicht so hieß, zurück zu ihren Eltern. Nachdem sie sich erholt hatte, ging sie in die Stadt um Arbeit zu suchen. Das namenlose Kind hinterließ sie bei den Eltern. Ihr Vater war Dorfältester, sodass niemand offen dagegen murrte.

Das Mädchen war drei Monate alt, als ein Brief die alten Leute erreichte, die ihr Enkelkind angenommen hatten. Die Mutter sandte einige Geldscheine, da sie für eine weiße Familie arbeitete. Das Kind sollte Zelda genannt werden. Wobei sie nicht erklären musste, dass dies der Name der Madam war, die sie angestellt hatte.

Zelda wurde von der Großmutter zu ihrer täglichen Feldarbeit mitgenommen, wo sie als Baby meist unter einem Baum schlief. Sobald sie laufen konnte, schärfte die Großmutter ihr ein, niemals den Garten, wie sie ihr Feld nannte, zu verlassen. Sie musste auch im eingezäunten Hof bleiben, in denen die Hütten lagen wo gekocht und geschlafen wurde. Da sie ein braves Mädchen war, befolgte sie diese Anweisungen, auch wenn sie öfters andere Kleinkinder hörte und manchmal einige vorbeilaufen sah.

Erst als fast Dreijährige erfuhr sie, dass sie anders war als andere. Die Großmutter hatte sie auf ihren Rücken gebunden zu einem mobilen Klinik im Busch getragen, die von Krankenschwestern eines ländlichen Krankenhaus periodisch angeboten wurde. Zeldas Großmutter stand mit ihr in einer Schlange vor zwei Krankenschwestern. Verwundert sah die Kleine die Frauen mit Kindern, viele klein wie sie, die bald mit einander spielten, nachdem sie gewogen und untersucht worden waren. Als die Schwester Zelda wieder auf den Boden gestellt hatte und mit Großmutter redete, watschelte Zelda auf die Kinder zu. Sofort kreischten diese und stoben wild auseinander, während einige Frauen ihr ein häßliches Wort zuriefen und sagten, sie solle verschwinden! Erschrocken lief sie zur Großmutter, die sie ausschimpfte, weil sie weggelaufen war.

Zelda schluchzte: „Ich wollte – die Kinder…“

„Mit denen hast du nichts zu tun.“

Zelda versuchte es zu verstehen. In den Hütten gab es keinen Spiegel. Aber einige Wochen nach der Buschklinik musste Großmutter mit ihr ins Krankenhaus, da die Schwester gesagt hatte, Zelda sei blutarm. Im Warteraum war an der Wand gegenüber von Großmutters Stuhl ein großer Spiegel. Zum erstenmal sah Zelda, dass ihr Gesicht bleich war. Nicht dunkelbraun wie Großmutter! Auch alle andere Frauen und Kinder waren dunkelbraun.

Danach merkte sie, dass außer der Großmutter, keine der Frauen die ebenfalls in ihren Gärten arbeiteten, je mit ihr sprachen, obwohl sie mit anderen Kinder redeten, die mit ihren Müttern gekommen waren. Ich bin anders, dachte sie, sie mögen das nicht.

Sie konnte nicht wissen, dass sie an etwas litt das Albinismus hieß und bedeutete, dass die Bildung des Pigments Melanin gestört war, sodass ihre Haut besonders hell schien. Das wusste Großmama auch nicht, doch ihr war bekannt, dass mancher traditioneller Heiler glaubte, dies habe mit Magie zu tun – die Körperteile von Albinos besässen magische Kräfte und könnten Glück bringen! Sie liebte Zelda und hatte große Angst um sie. Immer wieder gab es Gerüchte aus anderen afrikanischen Ländern über Tötungen und Verstümmlungen von Menschen wie sie! Ja, auch aus ihrem Land. Sie musste alles tun, um Zelda zu beschützen.

Der Großmutter war nicht bekannt, dass auch andere Wesen an dieser Störung litten. Aber da auch der Großvater wegen Zelda bekümmert war, nahm er sie öfters mit sich wenn er im Busch auf Jagd ging. So lernte sie die Tiere und Pflanzen kennen. Vor allem liebte sie die graziösen Gazellen und war stets traurig wenn eine von diesen getötet wurden. Als sie älter wurde, ging sie manchmal heimlich allein in den Busch, wo sie sich im hohen Gras versteckte um die Gazellen zu beobachtete. Eines Tages konnte sie es kaum glauben! Neben einer großen hellbraunen Gazelle lief eine kleine weiße! Diese sah genauso aus wie die anderen – bis auf die Farbe! Darauf ging Zelda so oft in den Busch wie sie konnte. Sie beobachtete wie das kleine Weiße zu einem großen Bock wurde und betrachtete ihn als Bruder.

Eines Tages hatte der Wind einen glühenden Zigarettenstummel im Busch erneut entfacht. In wenigen Minuten brannte ein Gebüsch, sodass die Flammen um sich griffen. An diesem Tag war Zeldas Großvater mit anderen auf der Jagd. Keiner von ihnen hatten je den Weißen gesehen. Sie wussten auch nicht, dass Zelda ihnen nachgeschlichen war und den Weißen entdeckt hatte, der, zu einem prächtigen Leittier geworden, auf einem kleinen Hügel seine Herde beobachtete. Plötzlich sah sie Flammen in die Höhe schlagen. Der Busch brannte! Gleichzeitig hatte das Leittier es bemerkt. In Sekunden wandte er sich in eine andere Richtung um die Herde in Sicherheit zu bringen!

Zelda erkannte die Gefahr der Jäger, die das Aufflammen aus ihrem Hinterhalt noch nicht sehen konnten. Sie legte die Hände um den Mund, schrie laut: „Der Weiße flieht! Folgt ihm! Der Busch brennt!“

Verstört sprangen die Jäger auf. Bemerkten das ominöse Knistern. Hörten wie Vögel sich mit verschrecktem Geschrei über den Busch hinauf in die Luft schwangen. Verstanden, die Flammen würden sie bald umzingeln! Sahen einen weißen Bock gefolgt von  einer Herde Gazellen über Gras, Gebüsch und Dornbäume setzen. Und folgten der Herde und dem warnenden Ruf!

Kaum den Flammen entkommen, ergriff der Grossvater einen Ast. Die anderen folgten ihm. Gemeinsam schlugen sie auf das brennende Unterholz und Gras ein. Jeder wusste, ihre Felder, ja – ihr Dorf – waren gefährdet. Schwere Arbeit. Als sie endlich den letzten Funken gelöscht hatten, sahen sie erstaunt Zelda, die nun ebenfalls erschöpft, sofort den Brand bekämpft hatte. Sie war es, die sie gewarnt hatte!

Keiner brauchte eine Erklärung, dass Zelda großen Schaden verhindert hatte. Beschämt sahen sie, wie der Dorfälteste die Enkelin in die Arme schloss. Auch musste keinem gesagt werden, dass von nun an Zelda vom ganzen Dorf akzeptiert und beschützt würde. Wobei die Geschichte der weißen Gazelle, die wohl der jungen Frau von den Ahnengeistern gesandt worden war, eine grosse Rolle spielte und seitdem von Mund zu Mund ging.

Kein Dorfbewohner sah den weißen Bock je wieder. Nur Zelda, inzwischen verheiratet und Mutter von zwei dunkelbraunen Kindern, ging manchmal in den Busch um ihn aufzusuchen und zu bewundern.

Ende

How the Bush was Saved

The white deer

It took some time before Zelda was given a name. If she had been told about it, it would scarcely have surprised her. On the contrary, she might even have wondered that she had received a name at all.

It was the custom of her people that the father walked alone into the bush with the newborn. There the ancestral spirits would whisper something about the child. Would it be bright, obedient, self-willed or whatever? As soon as he was certain, the father would return and announce the child’s name.

Zelda‘s progenitor never touched her. He entered the hut in the evening after the women had seen to both mother and child as usual. Shaken, he stopped at the threshold. Steppen back. Frowned, then cast another glance at the sleeping mother and child. He felt his heart contract, uttered a curse, then turned to melt into the darkness of the nearby bush.

It was the last time he saw his daughter. The following day her mother returned to her parents with the yet unnamed child on her back, carrying her possessions such as her cooking pots. Once she recovered, she journeyed to the city in search of work, leaving the girl with her parents. Her father was the village elder, so no one objected.

The little girl was three months old when a letter reached her grandparents. Her mother sent some bank notes, as she had found work in a white family’s household. She asked that the child be named Zelda. There was no need for her to explain that this was the name of her white madam.

Zelda was regularly taken by her grandmother to her fieldwork, where she would sleep peacefully as a baby under a tree. She was strictly forbidden to leave the garden, as her grandmother called her field. Nor was she allowed ever to go outside the yard with its kitchen,  sleeping and storage huts. She was an obedient child and did as she was told, though she often heard and sometimes saw other children walking past.

She was almost three when she realised that she was not like others. Her grandmother had taken her on her back and walked to a bush clinic organised by nursing sisters from a rural hospital. Zelda’s grandmother stood in line with others in front of two nurses. Surprised, Zelda watched the children, some as small as herself, who were playing with each other, once they had been weighed and examined. As soon as the nursing sister had placed her on her feet and was talking to her grandmother, Zelda toddled towards the children. Instantly they dispersed, shrieking loudly, while some women called her a nasty name and shouted at her to go away.

Weeping, Zelda ran to her grandmother: “I wanted…the children…”

Grandmother scolded: “You have nothing to do with them!”

Zelda tried to understand it. There was no mirror in any of the huts. However, some weeks after the bush clinic, grandmother took Zelda to the hospital, as the nurses had said that she was anemic. In the waiting room was a huge wall mirror. For the first time Zelda saw her own face! Startled,  she noticed that she was pale. Not dark-brown like grandmother! All other women and children were also dark-brown.

She began to see that apart from grandmother none of the women in the other gardens ever spoke to her, though they talked to all other children. I’m different, she thought. That‘s why they don‘t like me. Zelda was not to know that she suffered from something called albinism, which meant that the formation of the pigment melanin had been disrupted, so that her skin was unusually pale. Grandmother was also unaware of that, but she knew that some traditional healers wrongly believed that body parts of Albinos had magic powers and brought good luck! She loved Zelda and was greatly concerned for her safety. There were many reports from different African countries – yes, including her own! – about deadly attacks and maiming of Albinos. She did all she could to protect the child.

Grandmother had not known that other creatures and even plants suffered from the same condition. As grandfather too was worried about the girl, he actually took her with him when he went hunting on his own in the bush. She thus learned to know the animals and plant-life. Above all she loved the graceful gazelles and was always saddened, when one had been killed. When she was older, she sometimes went secretly into the bush, where she would hide and watch these wonderful creatures.

One day she could scarcely believe her eyes! She saw a small white animal walking beside a light-brown gazelle! It looked like all others – except for its colour! Thereupon Zelda went into the bush as often as possible. She watched the small white gazelle grow into a large male and thought of him as her brother.

One day the wind fanned the sparks of a cigarette end in the bush into a flame. Within seconds a thicket began to burn, from there the flames spread. That day, Zelda’s grandfather had joined others on a hunt. None of the men had ever seen the white gazelle. They were also unaware that Zelda had followed them. She had seen the white gazelle, that had grown into a splendid leader and was standing on a small hill, anxiously watched his herd. Suddenly Zelda was aware of the flames. The bush was on fire! At the same time the leader had become aware of the danger. He turned swiftly into another direction and moved fast, leading the herd to safety.

Zelda recognised the hunter’s danger, who had hidden themselves in a hollow and were unable to see the flames. She placed her hands around her mouth to shout as loudly as she could: “The white gazelle is in flight! Follow him! The bush is alight!“

Alarmed, the hunters jumped to their feet. Heard the ominous crackling. The annoyed chatter of birds taking wing above the bush! Saw that soon they would be encircled by flames! Without hesitation they followed the fleeing herd, as their warning voice had advised, with the animals sailing skilfully above the grass, bushes and stunted thorntrees.

No sooner had they escaped the fire that Zelda’s grandfather grasped a sturdy branch, followed by the others. Together they struck at the burning bush. Each of them was aware that their fields and crops, their village was endangered! Hard work. When at last they had succeeded in dampening down the last spark, they saw to their amazement that Zelda too was exhausted, she had also been fighting the fire. Of course: it had been she, who had warned them!

No one needed to tell them that Zelda had prevented the destruction of the bush. Ashamed, they watched the village elder take his granddaughter into his arms. Nor did anyone need to be told that from now on, Zelda would be accepted and protected by the entire village community. Aware that the white gazelle  – that surely the ancestral spirits had sent to the young woman – played an important part.

The white leader was never again seen by any villager. Only Zelda, since then married and mother of two dark-brown children, sometimes entered the bush to marvel at his grace.

The end

Der Junge aus Milastraße 18

Der kleine Junge hielt seine große Brotkruste fest in der Hand, als er über die Steintreppe in den Hof krabbelte. Keiner beachtete ihn. Niemand rief, er sollte zurückkommen. Sofort! Etwa zwanzig Meter entfernt sah er die Hühner, die mit unaufhörlichem Nicken ihrer Köpfe nach Körner suchten. Der Kleine setzte sich in Bewegung. Fast konnte er sein Glück nicht fassen! Niemand hielt ihn auf! Kreischend vor Freude bewegte der Kleine seine wackligen Beine auf die Hühner zu. Diesmal würde er eins fangen! Er konnte noch nicht allzu weit vorausdenken. Aber er kannte den Teich, dort tranken die Hühner, die liefen nie ins Wasser – er würde endlich eins anfassen können.

In dem kleinen Haus war die hagere Frau, die sonst ein scharfes Auge auf die Hühner, ihre Kuh, den Jungen und alles hatte, was sonst in ihrem kleinen Bereich zu versorgen war, nicht allein. Zwei ernste Männer, die einiges auf dem einzigen Tisch ausgebreitet hatten, standen in dem Wohnraum, in dem auch gekocht und gegessen wurde.

Der erste, der sich Antoni nannte, wies auf ein Foto: „Der Verladeplatz im Warschauer Ghetto. Dort soll es angefangen haben. Stimmt das, Anka?“

Anka. So hatte sie sich im polnischen Untergrund genannt. Die Frau versuchte, ihre Ruhe zu bewahren. Der Kleine … Sie ahnte, was sie wollten, die Männer. „So sagte man’s mir. Am 19. April 1943, das war der Tag vor dem jüdischen Befreiungsfest Pessach, da kamen Polizisten und SS-Hilfstruppen ins Ghetto, um dort mit den etwa 60 000 Bewohnern in den nächsten drei Tagen aufzuräumen, wie sie es nannten.“

Der Jüngere der beiden Besucher, der sich Henryk nannte, nickte. Er wusste, 300 000 Juden waren zwischen Juli und September 1942 aus dem Ghetto in eins der Vernichtungslager wie Treblinka deportiert worden, etwa 11 600 in Arbeitslager, wo die meisten ebenfalls irgendwann an Hunger und Erschöpfung starben. Die noch im Ghetto Lebenden wussten, dass ihnen derselbe Tod bevorstand. Sie hatten erfahren, dass das Ghetto geräumt werden sollte.

Henryk sagte: „Die Juden bauten Bunker. Am Ende fanden die Deutschen etwa 650 davon! Zwei Kampftruppen hatten sich zum Kampf vereinigt, etwa 750 Männer und Frauen der jüdischen Kampforganisation – Zydowska Organizacja Bojowa, ZOB und der Jüdische Militärverband Zydowski Zwiazek Wojskowy – ZZW. Sie wussten, sie hatten mit ihren neun Gewehren und wenigen Pistolen keine Chance.“

Anka nickte: „Am Nachmittag vom 19. April kletterten zwei Jungen auf ein Gebäude am Platz und hissten die rot-weiße polnische Flagge und die blau-weiße der Juden. Man konnte es von uns auf der polnischen Seite aus sehen! Die Genossen stampften in Anerkennung mit den Füßen und sangen! Was die Menschen im Ghetto aber nicht hören konnten.“

Der kleine Junge hatte jetzt die Hühner erreicht. Sie flatterten unruhig, um ihm zu entkommen. Er sah das weiße Huhn, das immer als erstes von seiner lieben Mama die Körner hingestreut bekam. Es hatte einen Namen, es hieß Zarin! Er rannte, so schnell er konnte, dem weißen Huhn nach, das sich aufgeregt flatternd entfernte. Da! Der Kleine stolperte, und – plumps! Mit einem Schlag setzte er sich auf seinen Hintern.
Antoni wollte es genauer wissen: „Als sie am Verladeplatz waren, wurde da plötzlich aus der Menge mit Pistolen auf die Deutschen geschossen?“

Anka nickte wieder. So hatte man es ihr erzählt. Die Deutschen konnten es nicht fassen. Es hatte eine erbitterte Schlacht gegeben! Beim ersten Sturm auf das Ghetto hatten die Deutschen zwölf Mann verloren! Die Menschen stoben auseinander, verstreuten sich in alle Richtungen, weg vom Verladeplatz! Das war der Anfang des verzweifelten jüdischen Aufstands.

Sie sagte: „Es war nicht zu glauben. Sie hatten uns um Waffen gebeten, viele konnten wir ihnen ja nicht geben … und die meisten unserer Genossen …“ Sie beendete nicht, was sie sagen wollte: dass die Genossen nicht geglaubt hatten, die Juden würden sich gegen die Deutschen wehren. Sie fuhr fort: „Die Gegenwehr war erstaunlich! Jüdische Kämpfer schossen aus Seitengassen, aus der Kanalisation, aus den Fenstern. Die Deutschen waren plötzlich nicht mehr im Ghetto sicher!”

Henryk fügte aufgeregt dazu: „Sie warfen Molotowcocktails und Handgranaten auf die Deutschen! Am Ende sprach der Kommandant von 110 Toten, wahrscheinlich waren es sehr viel mehr – die Juden hatten sogar zwei Panzer in Brand gesetzt! Die Deutschen waren völlig überrascht, außer sich! So etwas hatten die niemals erwartet!“

Antoni legte ein weiteres Bild auf den Tisch, während Henryk fortfuhr: „Die längste Schlacht fand am Muranowski-Platz statt. Dort wurde der ŻZW-Führer Dawid Moryc Apfelbaum im Kampf getötet.“

Anka war inzwischen immer aufgeregter geworden: „Das war aber nicht das Ende! Die Nazis ordneten an, dass das Ghetto niedergebrannt werden sollte! Kämpfer und andere Überlebende flüchteten in die Bunker. Die Deutschen gingen systematisch vor, setzten Flammenwerfer ein, warfen Granaten in jedes Haus, ein Haus nach dem anderen, Häuserblock für Häuserblock. Wir sahen das Flammenmeer, den schwarzen Rauch, hörten später von den rot glühenden Steinen der Häuser, mussten selbst auf unsrer Seite gegen den würgenden Husten ankämpfen…“

Henryk rief: „Trotzdem – der Bunkerkrieg, der Häuserkampf dauerte bis zum 16. Mai! Fast einen ganzen Monat! Länger als manches besetzte Land gegen die Deutschen ausgehalten hatte!“

Anka konnte nicht mehr an sich halten. Sie deutete auf ein Foto und sagte: „Die Milastraße 18. Dort gebar eine junge Frau ein Baby, während um sie herum gekämpft wurde!“

Ein Baby – das Kind. Das überlebt hatte, nachdem seine Mutter Deborah gestorben, sein Vater in den Flammen in einem anderen Bunker bis zuletzt gekämpft hatte. Einer der polnischen Kämpfer, der anderen half, durch den Tunnel aus dem Ghetto zu fliehen, hatte das Neugeborene gerettet, das eine Todgeweihte in eine Decke gewickelt hatte.
Henryk verfolgte das weiter: „Dort in Milastraße 18, da fanden die Deutschen den größten Bunker! Mila 18 war das ZOB-Kommandozentrum … Sie kämpften dort weiter, bis die Deutschen versuchten, sie mit Tränengas auszuräuchern – etwa 100 zusammen mit dem ŻOB-Führer Mordecai Anielewicz nahmen Zyanid, vergifteten sich.“
Anka wollte noch etwas hinzufügen: „Nur einige, darunter Marek Edelmann, der Stellvertreter von Anielewicz, Marek Edelman konnte zwei Tage später mit unserer Hilfe durch die Prostastraße entkommen, durch die Kanalisation … Wenn sie schon sterben mussten, so sagte er später, dann: „… wollten wir unseren eigenen Tod und den Todesort selbst bestimmen.”

Die Verzweiflung hatte ihnen diesen Todesmut verliehen! Ein Genosse, der wusste, dass sie allein war mit ihrer Trauer um den toten Geliebten, den die SS verhaftet und zu Tode gefoltert hatte, hatte ihr das Baby gebracht. Den kleinen Jungen, den sie lieben gelernt hatte wie ihren eigenen Sohn. Durch ihre Erinnerung hörte sie die Worte wie von weitem: „Anka, da sind Leute, die damals aus der Milastraße 18 zu uns in den Wald geflohen sind. Wir müssen den Juden den Jungen zurückgeben. Henryk und ich, wir wurden beauftragt …“ Antoni sah die Trauer in den dunklen Augen und beendete den Satz nicht.

Anka sagte nichts. Ging in den kleinen Schlafraum, wo sie den Jungen zum Mittagsschlaf hingelegt hatte. Und erschrak als sie ihn leer fand. Um Himmelswillen, der kleine Teich draußen! Sie sprang über die Stufen, sah den Kleinen nicht, nur einen Schwarm aufgeregter Hühner in der Nähe des Teichs.

Dort saß er. Mitten in einer schlammigen Pfütze. Die nackten Beine baumelten im Wasser. Die Ente mit ihren zwei Jungen waren herbeigeschwommen. Doch der Junge war mit den Hühnern beschäftigt. Er riss langsam Brotstückchen von der Kruste, warf sie ihnen zu, während Zarin ihm auf der Schulter saß. Er klatschte in die Hände, als er Anka sah, und rief: „Mama – kluk, kluk!“

Sie hob ihn auf und drückte ihn fest an sich, küsste das lockige Haar, die schmutzigen Wangen. Hielt ihn auf einem ihrer starken Arme, während sie mit der anderen Hand in der Schürzentasche eine Handvoll Körner fand und den Hühnern zuwarf. Einige landeten im Wasser, wo die Enten danach tauchten.

Zu Antoni und Henryk sagte sie: „Dort steht der Samowar. Bedient euch, trinkt Tee. Ich muss ihn baden. Umziehen. Seine Sachen packen. Wisst ihr: Heute ist der Jahrestag, an dem die Deutschen die Milastraße 18 entdeckten. An dem der Anführer Mordechai Anielewicz starb.“ Erneut küsste sie den Kleinen:„Und an dem der Kleine geboren wurde.“
Die Männer blickten erstaunt. Dann sagte Henryk: „Der 8. Mai. Der Tag, an dem die Deutschen kapitulierten. Der Tag unserer Befreiung. Von nun an sollen die Waffen schweigen.“

Anka sah den Jungen an und sagte so laut, dass die beiden Männer es hören konnten: „Herzlichste Glückwünsche für dein Leben, David!“

The boy of 18 Mila Street

The toddler clutched the large bread-crust tightly in his hand, as he crawled down the stone steps into the yard. No one noticed him. No voice shouted, Come Inside! Some twenty metres away he saw the nodding heads of the chickens, their keen eyes searching for corns. The little boy rose to his shaky legs.

He could scarcely believe his luck. No one stopped him!

Inside the modest home, the lean woman who normally had a sharp eye on the chickens, her cow, the boy and everything else in her small domain, was not on her own. Two serious men stood in her living-room, which was also the kitchen and dining room, where they had placed several items on her only table.

“The Germans lost twelve casualties during their first storm on the ghetto!”

The first, who called himself Antoni, pointed to a photo: “The assembly point in the Warsaw Ghetto. That was where it had begun. Is that correct, Anka?”

Screeching with joy, the little boy waddled towards the chickens. This time he would grab one! He was, as yet, unable to think very far ahead. But he knew the pond! That was where the chickens drank – they never went further than that – soon he’d be able to touch one.

Anka. That was the name she had used in the Polish Underground. She tried to remain calm. The small one…she guessed why the men had come.

“So I was told. On the 19th of April, 1943. That was the day before the Jewish liberation feast Passover. Police and SS support troops entered the ghetto. They had orders to clear the place. And remove some 60,000 in the course of the next three days.”

The younger and smaller of the visitors, who had told her his name was Henryk, nodded in agreement. He knew that between July and September 1942 some 300,000 Jews had been taken from the ghetto to death camps such as Treblinka. Another 11,600 were sent to forced labour camps, where they probably succumbed to overwork, hunger and exhaustion. Those, who had been left behind knew that the same fate awaited them. They had heard the rumour that the ghetto was to be closed down.

Henryk said: “The Jews built bunkers. At the end the Germans found about 650! Two groups of fighters made common cause, about 750 men and women of the fighter units: Zydowska Organizacja Bojowa, ZOB and the Jewish Combat Organisation Zydowski Zwiazek Wojskowy – ZZW. They knew that they had no chance to prevail over the enemy with their nine rifles and assorted pistols.“

Anka nodded: “On the afternoon of the 19th April two boys climbed on top of a tall building and raised two flags – the red-white of Poland and the blue-white of the Jews. One could see them from the Polish side waving in the wind! The comrades cheered, stamping their feet and singing in appreciation! Even if they couldn’t hear it in the ghetto!“

The boy had caught up with the hens. They fluttered about uneasily to get away from the intruder. He saw the white hen, who was always the first to begin picking at the corn his dear Mama strew in front of her. It had a name: Czar! He ran towards it as fast as he could, while it fluttered furiously out of reach. The little boy stumbled. He almost dropped the bread-crust. Something occurred to him. His legs gave way as he suddenly sat down on his behind.

Antoni wanted to know exactly what had happened. “The shooting began suddenly, when the masses were being rounded up at the assembly point?”

Anka nodded again. That was how it had happened, as she had been told by the survivors. The Germans couldn’t believe it! A real battle was fought out. The Germans lost twelve casualties during their first storm on the ghetto! The masses dispersed in all directions – away from the assembly place! It had been the start of the Jewish resistance.

She said: “It was almost unbelievable. They had asked us for weapons, we couldn’t give them many…and the majority of the comrades…”
She didn’t add, what she had been about to say: that the comrades had not believed the Jews would dare to stand up to the Germans. Instead she continued: “Their resistance was astonishing! Jewish fighters shot out of narrow lanes, the sewers and windows. All at once Germans were no longer safe in the ghetto!”

Henryk excitedly explained further: “They threw Molotov cocktails and hand-grenades at the Germans! In the end the commander talked about 110 casualties, but it is believed there were far more than that! The Jews had virtually no guns, only pistols! They even destroyed two armoured vehicles! The Germans had been taken by surprise, they were beside themselves with fury! At no time had they suspected that Jews would try and defend themselves!” Antoni placed another photo on the table, while Henryk added: „The longest battle took place at Muranowski Square. That was where the ŻZW-leader David Moryc Apfelbaum was killed during the fighting.“

Meanwhile Anka had become increasingly animated: “That was by no means the end! The Nazis ordered the ghetto to be totally destroyed. Everyone, fighters and the other inhabitants of the ghetto hid in bunkers and cellars. The Germans proceeded systematically. They used flamethrowers, threw grenades and explosives into each house, one after the other and set these alight, block after block. We saw the massive flames, the black smoke, heard later of the red-hot stones of the houses, we had to overcome the choking smoke even on our side.”
Henryk called out: “In spite of all that – the bunker war, the fight out of the houses continued until May the 16th! The Jews held out one whole month! Longer than many occupied countries had fought against the invading Germans!”

Anka could no longer bear it. She pointed to a photo and said: “18 Mila Street. That was where a young woman gave birth to her baby, while the battle raged all around her!”

The baby – the child. Who had survived while its mother Deborah had died, his father had succumbed to his wounds in another bunker, where he had fought until the end. One of the Polish comrades, who had helped the survivors to escape through a tunnel and sewers to the “Aryan” side of the city, had saved the newborn, who had been wrapped in a blanket by one of the doomed women.

Henryk pursued the subject: “It was in 18 Mila Street that the Germans discovered the largest bunker! 18 Mila was the ZOB-command centre… they fought desperately until the Germans used teargas – about 100 fighters together with the ŻOB-leader Mordecai Anielewicz took cyanide.”

The boy waved his crust. His little fingers broke off a small piece. Czar, he cried, cluck, cluck! Exactly like his dear Mama. He stretched out his small hand.

Anka had something that she wished to say: “Only a few, including Marek Edelmann, Anielewicz‘ deputy could escape with our help two days later through the canalisation from Prosta Street. As Edelmann said, they had resisted because “we wanted to choose our own death and its place.”

Their despair had turned them into heroes. And one comrade, who knew she had a smallholding with her feathered friends – and that she was lonely, grieving for her lover, whom the SS had tortured to death, had brought her the baby. The little boy she loved as though he was her own.

She heard the words as though from a distance: “Anka, there are people – they had fled from 18 Mila to join us partisans in the forest. We must return the boy to the Jews. Henryk and I, we were instructed…” He saw the distress in HER dark eyes and said no more.

She did not reply. Went to the small bedroom, where she had left him. Was shocked when she saw it was empty. Oh no – the pond! She jumped across the steps, couldn’t see him, only the chickens were swarming around at the edge of the pond.

That was where he sat. In the centre of a muddy puddle. Naked legs dangled in the water. A duck and her two young ones had edged closer, but he was only concerned with the hens. Slowly, he tore one bit of the crust after the other to throw these to the excited creatures, while Czar sat on his shoulder. He clapped his hands as he saw Anka and cried: “Mama…cluck, cluck!“

She lifted him. Held him close, kissing the curly hair, the muddied cheeks. Carried him in one strong arm, while groping with her hand in her large apron for a handful of crumbs which she threw towards the chickens. Several landed in the pond, where the ducks dived to find them.

She told Antoni and Henryk: “There is the samovar. Help yourselves. I must wash him. Change him. Pack his things. You realise: today is the the eighth of May. The anniversary of the day the Germans discovered 18 Mila Street. Where the leader Mordechai Anielewicz died. Once more she kissed the little one: “And when the boy was born.”

The men were surprised. Henryk said: “The eighth of May! Today the Germans surrendered to us and our allies! From now on the weapons are to be silent.“

Anka looked at the boy and said it aloud, so that the men could hear: “Happy Birthday – and good wishes for your life!”